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ChatGPT und philosophische Essays.

Die »künstliche Intelligenz« ChatGPT schreibt Texte. Sie erledigt diese Aufgabe besser als frühere Chatprogramme – trotzdem hat sie natürlich ebenso wenig Verständnis für das Geschriebene wie ihre Vorgänger. Die Leistungen imponieren gleichwohl.

Für die Schule kann man sich viele interessante Einsatzmöglichkeiten vorstellen. Die plakative Frage Tötet ChatGPT das Lernen? ist damit zwar sehr werbewirksam, aber natürlich Unfug. Schade ist gleichwohl, dass bestimmte Arten von Aufgaben nicht mehr möglich sein werden, weil sie mithilfe von ChatGPT gelöst werden können. Wie weit dies geht (und ChatGPT ist ja nur der Anfang), haben wir wahrscheinlich noch gar nicht durchdrungen.

Natürlich kann es beispielsweise in einer Unterrichtseinheit zum Thema Aufklärung sinnvoll sein, Schüler*innen aus verschiedenen Quellen Kennzeichen dieser Epoche sammeln und in Stichworten erklären zu lassen – wenn aber ChatGPT das in zwei Minuten erledigt, ist es für die Schüler*innen nicht unbedingt ersichtlich, wieso sie das per Kopf und Hand selbst erledigen sollen. Ein integrierender Ansatz, wie ihn Christian Spannagel vertritt, ist vor dem Hintergrund bestehender Lehrpläne mit darin benannten zu erlernenden / zu vertiefenden Kompetenzen kaum umzusetzen. Wenn von der Kompetenz »Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten, analysieren und bewerten zentrale Motive einer literarischen Epoche« der erste und zweite Aspekt jederzeit mithilfe von ChatGPT geleistet werden kann, wird die Übung schwierig. Wenn Schüler*innen aber die Übungsphase nicht durchlaufen, ist auch der dritte Aspekt »Bewertung« schwer zu leisten.

(Und natürlich kann ich mir die Gestaltung von Phasen vorstellen, in denen Schüler*innen ohne die Nutzung des Internets auskommen müssen. Aber in Gruppenarbeitsphasen, bei Projektaufgaben etc., also vielen offeneren und interessanteren Organisationsformen, ist das Netz immer präsent.) –

Für meinen letzten Durchgang der philosophischen Essays habe ich der terminlichen Passung wegen die Aufgaben des Philosophiewettbewerbs genutzt. Die am häufigsten bearbeitete Aufgabe lautete »Darf man Menschen zu ihrem Glück zwingen?«

Erteilt man ChatGPT die Augabe »Schreibe einen Essay von 1500 Wörtern zum Thema "Darf man Menschen zu ihrem Glück zwingen?", dann wird folgender Text ausgeworfen:

Es ist eine alte Frage, ob es möglich oder sogar moralisch vertretbar ist, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Es gibt dafür sowohl argumente pro als auch contra.

Ein Argument dafür wäre, dass Menschen manchmal schlechte Entscheidungen treffen, die ihr Glück auf lange Sicht sabotieren. Zum Beispiel könnten sie sich für einen Beruf entscheiden, der sie unglücklich macht, oder in einer Beziehung bleiben, die schädlich für sie ist. In solchen Fällen könnte es sinnvoll sein, Menschen zu ihrem eigenen Glück zu zwingen, indem man sie dazu bringt, ihre Entscheidungen zu überdenken oder sogar zu ändern.

Ein Argument dagegen ist, dass das Glück eine subjektive Erfahrung ist und jeder Mensch seine eigene Vorstellung davon hat, was ihn glücklich macht. Wenn man Menschen zu ihrem Glück zwingen würde, wäre dies eine Einschränkung ihrer Freiheit und ihres Selbstbestimmungsrechts. Sie sollten selbst entscheiden dürfen, was sie glücklich macht, auch wenn diese Entscheidungen anderen Menschen vielleicht unverständlich oder sogar unangebracht erscheinen.

Ein weiteres Argument gegen das Zwingen zum Glück ist, dass es unmöglich ist, den Glückszustand eines Menschen zu verändern, indem man ihm Vorschriften macht oder ihn dazu zwingt, bestimmte Dinge zu tun. Glück ist eine emotionale Reaktion auf die Umstände des Lebens und hängt von vielen Faktoren ab, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Es ist daher unwahrscheinlich, dass man Menschen zu ihrem Glück zwingen kann, indem man sie dazu bringt, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen.


Der Text ist nicht lang genug, weil das Programm den Task wegen Überlastung abgebrochen hat, aber deutlich wird schon anhand dieses Fragments: es ist kein origineller Text, er wird die Philosophie nicht um den entscheidenden Schritt voranbringen, er hat diverse Schwächen, er arbeitet mit Allgemeinplätzen und so fort. Aber: das lesen wir in Schüleraufsätzen (übrigens genauso wie in Zeitungsartikeln, politischen Kommentaren etc.) auch. Aus den Schwächen, die dieser Text hat, zu folgern, er müsse von einer KI geschrieben worden sein, ist nicht möglich. Da der Text aber on the fly generiert und nicht allgemein verfügbar abgespeichert wird, kann ich als korrigierender Lehrer vielleicht den Verdacht haben, er sei nicht selbst geschrieben, dies aber nie belegen. Und nein: es würde sicher keine hervorragende Note vergeben. Aber für Schüler*innen, die ohnehin nur ein »befriedigend« oder »ausreichend« brauchen und / oder glauben, nicht mehr erreichen zu können, wäre die Nutzung von ChatGPT eine Handlungsmöglichkeit.

Daher, befürchte ich, kann ein philosophischer Essay in der bisherigen Form keine Klausurersatzleistung mehr sein. Das finde ich ausgesprochen schade, denn es war eine freiere Form der Leistungserbringung, die immer wieder außergewöhnliche Aufsätze entstehen ließ.

Hm. Noch nicht fertig mit dem Nachdenken.

Im Camp Catatonia …

werden die Seriösen beschrieben und das gar nicht so unpassend, daher schrieb ich:

Ich finde, für einen zappligen Onlinemenschen hat das Autory uns Seriösen (die wir zuweilen – dann zehren und erzählen wir aber auch lange davon – Ausflüge ins Netz unternehmen, um uns danach rasch wieder in die Leseecke zu flüchten) in unserem Wesen ganz gut erfasst. Und dass es zum Köpfe-gegen-Wände-Hauen genügend Gründe innerhalb und außerhalb unseres eigenen Seins gibt, wissen die Katzenvideolurker ebenso wie die Seriösen.

Modem World.

Ein Artikel in der New York Review of Books lenkte meine Aufmerksamkeit auf Kevin Driscolls Buch The Modem World – A Prehistoric of Social Media, das für uns Alten, die wir in Mailbox-Netzen groß geworden sind, durchaus interessant zu lesen ist, weil es neben der Darstellung technischer Voraussetzungen und Entwicklungen immer auch auf die Nutzer*innen fokussiert und ihren Wunsch nach Austausch und Kommunikation zeigt.

Da die Gegebenheiten hierzulande doch deutlich anders waren (und alle Erscheinungen mit einigen Jahren Verspätung ankamen), wäre ein Titel auf ähnlichem Niveau für den deutschsprachigen Raum sehr wünschenswert. –

Auf der Website von The Well – hervorgegangen aus einer der größten BBS – wird die Teilnahme an der Diskussion mit dem Autor angeboten.

c’t Retro.

Abilldung einer Abbildung der Mausefallen-DiskettePassend zum gerade erschienenen Asterix-Band und zur momentan mal wieder lieferbaren Ritter Sport Olympia ging mir das Belegexemplar der lesenswerten c’t Retro zu (Danke!), in der sich ein Artikel über Computernetze vor dem Internet findet.

Darin: ein Bild meiner Mausefalle-Diskette, das der Autor Hans-Peter Schüler hier fand.

YouTuber vs. große Koalition etc.

Erst macht Rezo ein Aufsehen erregendes Video (zur Zeit über 7 Millionen Aufrufe), das sich gegen die Politik der regierenden Parteien und erst recht gegen die Weltsicht der Ewiggestrigen richtet, jetzt tun sich die YouTuber nochmal zusammen:

Dies ist ein offener Brief. Ein Statement. Von einem großen Teil der Youtuber-Szene.
Am Wochenende sind die EU-Wahlen und es ist wichtig wählen zu gehen. Aber es ist genauso wichtig, eine rationale Entscheidung bei der Wahl zu treffen, die im Einklang mit Logik und Wissenschaft steht.

Es gibt viele wichtige politische Themen, aber nach der Risiko-Hierarchie hat die potentielle Zerstörung unseres Planeten offensichtlich die höchste Priorität. Jedes andere Thema muss sich hinten anstellen.

Die irreversible Zerstörung unseres Planeten ist leider kein abstraktes Szenario sondern das berechenbare Ergebnis der aktuellen Politik. Das behaupten nicht wir, sondern das ist der unfassbar große Konsens in der Wissenschaft. Die Experten sagen deutlich, dass der Kurs von CDU/CSU und SPD drastisch falsch ist und uns in ein Szenario führt, in dem die Erde unaufhaltsam immer wärmer wird, egal was wir tun. In dieser Welt sterben nicht nur viele Tierarten aus, sondern auch viele Menschen. Für die Überlebenden nehmen Krankheiten zu, Billionen wirtschaftliche Schäden entstehen und es werden hunderte Millionen Flüchtlinge kommen, die nicht für ein paar Jahre sondern für immer in anderen Ländern untergebracht werden müssen.
Darin ist sich die Wissenschaft sicher. Hier geht es nicht um einzelne Expertenmeinungen, denn die kann man immer finden. Nein, es ist ein überwältigender Konsens unter Wissenschaftlern, der sich auf unzählige unabhängige Studien und Untersuchungen stützt.

Wer diesen Konsens leugnet, so wie die AfD, oder nicht danach handelt, wie die aktuelle Regierung, hat nichts in der Führung eines aufgeklärten Landes zu suchen.
Vielleicht ist Unwissenheit der Grund für dieses Fehlverhalten, vielleicht haben sie nicht die Stärke oder den Anstand, Wissenschaft und Realität über das Geld und den Einfluss der Großkonzerne und Lobbys zu stellen. In jedem Fall müssen wir dafür sorgen, dass Parteien einen Anreiz haben, im Sinne der Wissenschaft zu handeln. Und der offensichtliche Anreiz, den wir schaffen können, ist, dass sie bei den Wahlen Stimmen verlieren. Denn nur dann hätten sie einen Grund, ihr Verhalten zu verändern.

Daher bitten wir alle: Wählt nicht die CDU/CSU, wählt nicht die SPD. Wählt auch keine andere Partei, die so wenig im Sinne von Logik und der Wissenschaft handelt und nach dem wissenschaftlichen Konsens mit ihrem Kurs unsere Zukunft zerstört. Und wählt schon gar nicht die AfD, die diesen Konsens sogar leugnet.

Hier geht es nicht um verschiedene legitime politische Meinungen. Es geht um die unwiderlegbare Notwendigkeit, alles dafür zu tun, den Kurs so schnell wie möglich drastisch zu verändern. Das fordern über 26.000 deutschsprachige Wissenschaftler. Das fordert der Weltklimarat, der die tausenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen sichtet und zusammenfasst. Und wir stellen uns auf die Seite der Experten. Denn wenn wir die nächsten Jahre auf diesem Kurs bleiben, haben wir vielleicht keine Chance mehr, die Zerstörung aufzuhalten.

Zuletzt, liebe Politiker: Natürlich habt ihr jetzt die Möglichkeit, uns wieder zu diskreditieren. Ihr könnt uns vorwerfen, dass wir ja sowieso keinen Plan haben, wovon wir reden. Dass wir lügen. Dass wir an Fake-Kampagnen teilnehmen. Instrumentalisiert sind. Dass wir gekauft und bezahlt sind und so weiter. All diese respektlosen Techniken habt ihr bereits dieses Jahr gegen uns, gegen eure eigene Bevölkerung eingesetzt.
Und wir sprechen für sehr viele Bürgerinnen und Bürger, wenn wir sagen:
Ihr habt euch damit keine Freunde gemacht.

– Möge ihr Appell wirksam sein, auf dass junge Menschen zuhauf zur Wahl gehen und entsprechend wählen. Nicht nur bei der Europawahl, sondern weiterhin. –

[Update:] Ben von anmut und demut zum Thema.

Jaron Lanier und neuronale Netze.

In der FAZ ein Interview mit Jaron Lanier unter der so unsinnigen wie sensationsheischenden Überschrift »Könnte man das Internet in die Luft jagen?«.

Aus diesem Anlass ein bisschen rumgegoogelt und eine Einführung zu neuronalen Netzen gefunden.

(Eigentlich hatte ich nach dem Stichwort »faltendes neuronales Netzwerk« gesucht und es zu Beispiel hier gefunden. Leider noch nicht verstanden; muss ich morgen noch einmal wacher probieren.)

Mausefalle fürs MAUS-Netz.

Beim Aufräumen gefunden:

Diskette mit Software »Mausefalle«


Die Mausefalle war ein von Christoph Pagalies geschriebenes Programm für den Apple Macintosh (in meinem Fall ein Performa 475 mit System 7.1P und später), mit dem in Zusammenarbeit mit Markus Fritzes Hans geht zur Post sehr effizient (teure Onlinezeit sparend!) Nachrichten im MausNet ausgetauscht werden konnten: Maustausch eben. Angemeldet war ich in Klaus Atzpodiens Maus KI, genutzt habe ich – vor allem für Software-Downloads – auch Markus’ Hamburger Maus.

Das Mausnetz zeichnete sich durch einen für Online-Verhältnisse sehr zivilisierten Umgangston aus – Welten von dem entfernt, was heute in den sogenannten sozialen Medien passiert.

Werkzeuge im Netz.

KärtchenAuf der schon erwähnten Tagung »Lesen, Schreiben, Wischen – Digitale Medien im Deutschunterricht auf dem Prüfstand« des Fachverbandes Deutsch habe ich auch einen Workshop zum oben genannten Thema geleitet. Es gab einen Arbeitsauftrag, dessen Ergebnisse in einer Google-Docs-Tabelle gesichert wurden. Hier ist das Ergebnis (das natürlich noch mündlich ergänzt und diskutiert wurde). Weil der Workshop zweimal mit unterschiedlichen Teilnehmer_innen stattfand und ich die Ergebnisse aus zwei Tabellen ohne die Texte zu redigieren zusammengefügt habe, können einzelne Einträge redundante Informationen enthalten.

Bloggende Lehrer_innen.

Anlässlich der Tagung Tagung »Lesen, Schreiben, Wischen – Digitale Medien im Deutschunterricht auf dem Prüfstand«, die am 13. und 14. November 2015 in der Akademie Sankelmark stattfand, habe ich einen kleinen Vortrag zum oben genannten Thema gehalten. Hier ist das virtuelle Typoskript.

(Das Übertragen der Links in die TeX-Datei war zwar arbeitsaufwendiger als notwendig, wenn Ihr allerdings den Quellcode dessen sehen würdet, was Evernote »HTML-Export« nennt, bedecktet Ihr weinend Euer Gesicht und wendetet Euch grausend ab. Dann lieber Arbeit und ein hübsches Dokument.)

Lobo und Lauer bei der FAZ.

Sascha Lobo: »Diskussionen auf Twitter enden in so großer Prozentzahl in Katastrophen und Konfrontationen, dass man das schon als systemischen Fehler unterstellen kann.« (In Das Ende der Nerds)

(Dass Twitter gleichwohl für Diskussionen – siehe zum Beispiel der Kanal #edchatde – genutzt wird, erstaunt mich auch immer wieder, geht aber wohl auch mit einer gewissen Leidensfähigkeit und textästhetischen Unempfindlichkeit der Nutzer_innen einher …)

Lumma vs. Lanier. 0:1 (durch Eigentor).

Nico Lumma tweetet:


– hat eigentlich auch nur einer derjenigen, die Lanier kritisieren, mal den Versuch unternommen, seine Bücher zu lesen? Oder, wenn die Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr reicht, zumindest den Klappentext?

Kleiner Hinweis für das letzte Buch, Wem gehört die Zukunft?: es geht nicht um die Orientierung an einem Ideal der Vergangenheit, sondern um einen sich aus der Analyse heutiger Verhältnisse ergebenden Entwurf zukünftiger Handlungsmöglichkeiten unter der Voraussetzung fortschreitender Digitalisierung.

Es will Euch also keiner Eure Spielzeuge wegnehmen.

Gelesen. Lanier. (Und Friedenspreis.)

Jaron Lanier: Who Owns the Future? London: Penguin, 2013.

Lanier zu lesen ist deshalb lohnend, weil er gängige Mythen der Netzkultur hinterfragt. Notwendig wird dies einer gewissen saturierten Selbstgefälligkeit wegen, die vielen sich selbst als digital natives Begreifenden eigen zu sein scheint.

Angesichts der hier ja schon erwähnten Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beispielsweise schreibt Jürgen Geuter

Der Friedenspreis für Jaron Lanier ist eine Kampfansage an das »Netz des Everybody«, das Internet der Kollaboration und der Crowds, das Netz, in dem dezentrale Gruppen Wissen und Kultur schaffen. Er ist eine Ablehnung von Ideen wie OpenSource und Crowdsourcing, eine Forderung der Rückbesinnung auf traditionelle Macht- und Produktionsstrukturen.

In dieser Einschätzung offenbart sich digitales Denken in Schwarz-weiß- bzw. An-aus-Schemata: wer Kritik an einzelnen Aspekten oder sichtbaren Folgen übt, sei damit ein Gegner jeglicher Netzaktivität. Das ist natürlich Unfug.

Lanier zeigt die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Digitalisierung auf: er sieht eben nicht (nur) die böse Musikindustrie, die jahrzehntelang die Künstler knebelte, bis die heroische Schar der Tauschbörsennutzer sie vollkommen uneigennützig befreite, sondern auch die Arbeitsplätze der Mittelschicht (in den Plattenfirmen selbst, aber auch im Vertrieb), die mit zurückgehenden Umsätzen schwanden. Wie in der Musikindustrie geschehen, sieht Lanier auch einen Großteil der anderen Arbeitsplätze von Digitalisierung und Automatisierung bedroht.

Für Crowdsourcing beispielsweise nennt Lanier auch gelingende Beispiele, beispielsweise die Kampagne von Amanda Palmer, die per Kickstarter für neue Projekte statt der erbetenen 100.000 US$ fast 1,2 Millionen US$ sammeln konnte – er verdeutlicht aber auch, dass wir nicht alle Amanda Palmer sind und bereits weniger extrovertierte Künstler (noch mehr natürlich der normale Bürger) im Kampf um die Aufmerksamkeitsökonomie zwangsläufig untergehen müssten.1 1: Jürgen Geuter bekommt auf ein Blogpost hin immerhin 748 € zusammen. Das kann man beachtlich finden (ist es), allerdings ist Geuter – verglichen mit dem normalen Bürger – extrem gut vernetzt. Muss ich wirklich erwähnen, dass es Lanier gleichwohl nicht um die Restituierung »traditionelle[r] Macht- und Produktionsstrukturen« geht?

Geuter sieht in der Verleihung des Preises an Lanier eine lächerliche Lobbyverlautbarung:

Vor allem ist er [der Preis] das laute Betteln, alles möge doch bitte endlich wieder werden wie früher.

Dies kann nur für denjenigen lächerlich sein, der gerade nicht vom Verlust seines (ggf. erst potentiellen) Arbeitsplatzes bedroht ist. Ich wirke an der Ausbildung von Buchhändlerinnen und Buchhändlern mit und darf am Beruflichen Gymnasium Jahr für Jahr hoffnungsvolle junge Menschen mit Abitur in die Welt entlassen. Nein, mein Arbeitsplatz ist nicht bedroht. Ich möchte aber, dass meine Auszubildenden, meine Schülerinnen und Schüler auch eine Perspektive entwickeln können, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Und nein, es können nicht alle davon leben, dass sie sich mit dem Gadget ihrer Wahl ins nächste Café setzen und von dort aus wahlweise für nichts als die Ehre coden, für nix schreiben und für umme was auch immer Kollaboratives tun: von irgend etwas müssen wir leben!2 2: Ein weiterer Aspekt, der für Lanier als Vater wichtig ist, ist immer die Frage, ob Geld in der Menge fließt, dass in Familien Kinder aufwachsen können. Als nur für sich verantwortlicher allein Lebender hat man natürlich andere Prioritäten.

Was Lanier bei der Entwicklung von Technik als wichtig herausstellt, ist der auch langfristige Nutzen für den Menschen. Den begreift er als gefährdet, wenn die Entwicklung des Netzes und der durch dieses geprägten Kultur fortgesetzt wird wie bisher. Statt beispielsweise die Tendenz fortzusetzen, immer weniger Menschen für ihre zunehmend ins Digitale verlagerten Dienste zu bezahlen, sieht er es als notwendig an, dass die immer wieder angeführten »siren servers«, die zentralen Firmen im Netz, ihre Nutzer für ihre Daten und Inhalte bezahlen. Beispiel: Amazon ist meine erste Anlaufstelle im Netz, wenn ich mich mal kurz über ein mit unbekanntes Buch informieren will. Ich informiere mich dabei mittels Rezensionen, die andere Nutzer unbezahlt Amazon zur Verfügung gestellt haben, aber auch über Empfehlungen, die aus Daten über das Kundenverhalten errechnet wurden. Warum bezahlt Amazon die nicht?

Lanier reaktiviert und aktualisiert damit den alten arbeiterbewegten und gewerkschaftlichen Gedanken, dass eine Leistung, mit der Firmen Geld verdienen, auch angemessen entlohnt werden muss, damit die Leistungserbringer davon leben können.3 3: Wer das Prinzip noch nicht begriffen hat und ermessen möchte, wie weit zurück die Kritiker sind, mag noch einmal Zolas Germinal aus dem Jahr 1885 lesen. Es geht darum, dass nicht nur die Bergwerksbesitzer, sondern auch die Bergarbeiter gut leben können. Ob und wie dies geschehen muss, darüber ist zu diskutieren; darin aber nur ein Beharren alten Strukturen zu erkennen, zeugt von mehr als nur Kurzsichtigkeit. Immer wieder bezeugt Lanier seine Schwierigkeiten mit monopolartigen Strukturen, die sich im Netz zur Zeit sehr deutlich herausbilden und dabei enorme finanzielle Werte anhäufen, deren Unterpfand aber Daten sind, die sie bei unbezahlten Nutzern sammeln (»Your lack of privacy is someone else’s wealth« (99)).

Ein anderer Gedanke: bei Kristian Köhntopp las man früher, als er noch eine eigene Website hatte und nicht nur einen Account bei einem der Siren Servers, das Wesen der IT sei die Kopie. Bei Lanier erfahren wir (im Ted-Nelson-Kapitel, 213 ff.) durch einen Blick in die Computerhistorie, dass diese Selbstverständlichkeit ebenso wie Eigenheiten von Tim Berners-Lees HTML konzeptionelle Entscheidungen waren. Heute aber erschweren sie uns zum Beispiel die direkte Rückmeldung an den urheberrechtlichen Schöpfer. Beispiel: wir erstellen (wie viele andere auch) ein Mashup aus im Netz verfügbaren Videos und Musik. Zwei Möglichkeiten ergeben sich nun: der Schöpfer der ursprünglichen Werke bekommt dafür nichts, weil die Schöpfungshöhe des neuen Werks so hoch und der konkret genutzte Anteil so klein ist – oder aber er kann einen Richter davon überzeugen, dass es sich im eine Urheberrechtsverletzung handelt, sodass wir als Mixer hohe Strafzahlungen leisten müssen. Günstiger wäre möglicherweise ein Rückmeldungssystem, das kleine Summen, Micropayments, in dem Moment leistet, in dem das fremde Werk genutzt wird.

Und so fort. Lanier lesen bedeutet auch, sich einem assoziativen, mäandernden Stil anzuvertrauen, in dem Ideen nicht immer stringent und vielleicht nicht mal immer konsistent entwickelt werden: wir sehen hier einem kreativen Menschen4 4: Lanier ist Musiker. Wer nicht mindestens ein Instrument spielt, ist für Kritik disqualifiziert. :-) beim Denken zu. Und das kann auch mal in die Irre führen. Der Fehler der Gegner Laniers ist, dass sie ihn für ähnlich geistig unbeweglich halten wie sie selbst es möglicherweise sind: Lanier bietet keine fertigen Lösungen an, sondern in einem Diskussionsbeitrag neue Konzepte für eine sich verändernde Welt, in der der Wert des Menschen aber eben nicht ab-, sondern zunehmen soll: »humanistic information economy« nennt Lanier dieses Ziel.

Jürgen Geuter, der oben angeführte Kritiker, begreift den Menschen als »Knoten im sozialen Netzwerk«, der letztlich nicht Herr über seine Daten sein könne und solle. Lanier denkt in den letzten Sätzen seines Buches darüber nach, welches Leben seine Tochter einmal führen wird, und er wünscht sich ein für sie ein lebendiges Dasein: »fun and wild, […] radically wonderful, and unendingly so« (349) Hier stehen gegeneinander ein mechanistisches, konformistisches Einordnen, das den als normativ verstandenen Forderungen der Technikökonomie entspricht, und der Wunsch, die Technik möge das Hippieleben eher noch ein wenig großartiger machen. – Meine Wahl ist klar.

Buch bei Amazon angucken: englischdeutsch.